Momentaufnahmen.


Oft frage ich mich, wie ich von Moria erzählen soll, wie ich es beschreiben kann. Und manchmal denke ich mir, dass es doch eigentlich gar nicht so wichtig ist, dass ich persönlich auch davon berichte.

 

Denn wenn man das Camp Moria googelt findet man hunderte Artikel, Videos und Meldungen, die von den grauenhaften Bedingungen erzählen. Von dem schlechten und nicht wirklich nahrhaften Essen, den endlos langen Schlangen dafür, in denen es immer wieder zu Reibereien kommt. Von dem Gestank, Müll und Dreck. Von schmutzigen Kindern, die nicht warm genug gekleidet sind und deren Spielzeug häufig aus Dingen besteht die sie irgendwo finden, wie zum Beispiel kleine Körbe in den sie den Hügel im Camp herunterrutschen. Von fehlender Sicherheit, von Vergewaltigungen und Messerstechereien. Von fehlendem Platz, von dreiköpfigen Familien, die auf weniger als 4m² leben. Von viel zu wenigen Toiletten und Duschen, die zudem auch mehr als unhygienisch und super dreckig sind.


Ich sehe diese Beiträge und kann zu hundert Prozent zustimmen und mein Herz blutet über dieser zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit.

Und doch denke ich mir immer wieder, dass in diesen Berichterstattungen etwas fehlt, dass es nicht die ganze Wahrheit zeigt, denn ich sehe so viel mehr, als nur die Hoffnungs- und Freudlosigkeit und Schwere. In all dem sehe ich dennoch immer wieder kleine Funken von Hoffnung, erlebe Mitmenschlichkeit und staune so oft darüber, wie die Campbewohner trotz allem das beste aus ihrer Misere machen. 

 

Auch wenn ich von Natur aus sowieso eher ein Mensch bin, der versucht das Gute in jeder Situation oder Person zu sehen, so muss ich mich hier in Moria dennoch immer wieder bewusst dazu entscheiden, mich nicht von all der Schwere und dem Leid überrollen zu lassen. Und es soll auch kein Versuch sein, die Bedingungen gut zu reden, so ein wenig nach dem Motto: "in der DDR war ja auch nicht alles schlecht". Sondern vielmehr möchte ich stets meinen Blick darauf richten, wie Gott aus allem etwas Gutes machen kann. In dem Lied "Another in the fire", was mich in meiner Zeit hier schon länger begleitet heißt es:

»You take what the enemy meant for evil and you turn it for good«

 (Du wendest zum Guten, was der Feind zum Bösen geplant hat)

 

Und deswegen möchte ich euch nach langer Vorrede in ein paar solcher Situationen mit hineinnehmen, in ein paar gute Momentaufnahmen:

 


- Gastfreundschaft -

 

 Ich bin unterwegs in Zone 9, einer der äußersten in den Olivenhainen. Ich habe gerade keinen dringenden Job zu erledigen und bin eigentlich auf dem Weg zurück zum Büro unserer Organisation um eine neue Aufgabe zu bekommen. Da kommen mir ein paar syrische Kinder entgegen, die mich fröhlich grüßen und mir ganz stolz ihre Englischkenntnisse präsentieren und mich unteranderem fragen, wo ich herkomme. Dass mein Heimatland häufig für Furore sorgt, bin ich schon gewohnt, doch diese Kids sind besonders begeistert und nehmen mich gleich bei Hand um mich zu ihrer selbstgezimmerten Unterkunft zu ziehen.

Da ich Zeit habe, lasse ich mich darauf ein. Dort angekommen erinnere ich mich, dass mir von eben dieser Familie erst vor ein paar Tagen ein Handy vors Gesicht gehalten wurde um über Videoanruf mit ihrem Sohn in Deutschland zu sprechen, der mich in ziemlich gutem Deutsch fragte, was ich in Moria mache. Das erklärt für mich die Aufregung der Kinder, denn in mir haben sie jemanden gefunden, der aus dem Land kommt, in dem nun ihr Bruder lebt und in welches sie auch gerne ziehen würden.

Und schon finde ich mich auf dem Boden sitzend wieder, umringt von mindesten fünf Kinder, die Nachbarn gesellen sich auch gleich mit dazu und freuen sich über den Gast. Selbstverständlich habe ich gleich sofort eine Tasse gezuckerten Schwarztee vor mir stehen. Wir versuchen mit ihren Englischkenntnissen und meinen wenigen arabischen Wörtern zu kommunizieren und nutzen dabei natürlich auch Hände und Füße. Einer der Jungs staunt über meine grünen Augen, zeigt mir seine braunen Augen, von denen das eine heller ist als das andere. Das Mädchen neben mir kramt ein kleines Schulheft hervor in dem sie neben süßen Zeichnungen auch ein paar englische Wörter gekritzelt hat, die sie mir nun stolz präsentiert. 

Während ich mich auf die Kinder konzentriere zaubern die Eltern plötzlich ein Festmahl zu Tage, mit Brot, Salat und verschiedenen Dips. Dass ich vor dem Essen gehe kommt gar nicht in die Tüte und so werde ich mehrmals dazu aufgefordert zu essen, wenn es danach aussieht als wäre ich schon fertig. Am liebsten hätte ich die arabische Gastfreundschaft noch viel länger genossen, doch die Pflicht ruft und ich versuche ihnen zu verdeutlichen, dass ich nun leider wieder arbeiten müsste. Sie verabschieden sich herzlich von mir und der vielleicht achtjährige Junge steckt mir noch einen kleinen selbstgepflückten Blumenstrauß zu, mit dem ich unser Büro später verschönere.


- Einer in 20.000 - 

 

Es war vielleicht im Dezember letzten Jahres an einem meiner wenigen Camptage, als ich noch viel regelmäßiger in unserem Warenlager arbeitete. Wir gaben kleine Campingzelte an die Neuankömmlinge aus, was eine der wenigen Aufgaben war, die ich wirklich verabscheute zu tun. Zu diesem Zeitpunkt war das Camp so voll, dass wir für sie keinen anderen Platz finden konnten, sodass wir an die Familien 1-2 Viermannzelte, eine Plane und zwei Meter Seil ausgaben, womit sie dann selbst einen Platz im überfüllten Camp finden mussten. Da wir aber dennoch versuchten, für wenigsten ein paar der Leute einen besseren Platz zu finden, mussten sie oft mehrere Stunden in dem Bereich um unseren Bürocontainer warten. Dabei blieb mir eine Familie besonders im Gedächtnis. Denn sie kamen auf mich zu um mich zu bitten einen guten Platz für sie zu finden, da der Familienvater taubstumm ist und es für sie dadurch noch schwieriger ist im Camp zurecht zukommen. Ich konnte ihnen leider nur die Standardantwort geben, dass wir unser Bestes versuchen, aber da das Camp nun mal so voll ist, wir ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit am Ende nur ein Zelt geben können. Und darauf lief es für diese Familie am Ende leider auch hinaus, was sie erstaunlicherweise jedoch verstanden und hinnahmen. Nun mussten sie noch einige Zeit auf ihr Zelt warten, auf welches wir eine Nummer sprühen, auf welche wir die Familie dann registrieren, damit wir wissen, wo sie wohnen. Bei der Ausgabe dessen, war die Familie leider eine der letzten und ich litt mit ihnen, dass sie so lange ausharren mussten nur um am Ende eine Unterkunft zu bekommen, in der sie weder warm noch sicher sein würden. Und doch überraschten sie mich, als sie mich dankbar anstrahlten, als ich ihnen endlich ihr Zelt in die Hand drückte. 

Die gütigen Augen des vielleicht fünfzigjährigen Mannes sind mir dabei sehr hängen geblieben und ich ihnen anscheinend auch. Denn jedes Mal wenn ich sie im Camp zufälligerweise sehe, dann grüßen sie mich voller Freude, auch noch jetzt nach so vielen Monaten. Und es erstaunt mich jedes Mal aufs Neue, wie in einem so großen Camp, mit so vielen Menschen, ich doch immer wieder Personen über den Weg laufe, die ich kenne, die für mich nicht nur Fremde sind, sondern Individuen, die von mir gesehen sind und nicht nur das sondern wie viel mehr noch von Gott! 


- Geburtstag in Moria - 

 

Es ist Momtazs zweiter Geburtstag. Sie kommt aus Somalia und lebt mit ihrer Mutter und älteren Schwester in dem besonders geschützten Bereich für alleinstehende Frauen. Meine Mitbewohnerin Verena ist gut mit der Familie befreundet, da sie für zwei Monate in diesem Teil des Camps gearbeitet hat. Und nun stehen wir mit Geschenk und Kuchen (natürlich inklusive Kerze) vor ihrer Wohneinheit, die sie sich mit einer zweiten Familie teilen. Die Freude ist groß über diese Überraschung und ich genieße einen so voll mit guter Laune gefüllten Moment, der so abseits des normalen Campalltags ist. Wir singen voll Innbrunst Happy Birthday und der Kuchen wird gerecht aufgeteilt, auch unter den Kindern die neugierig hinzugestoßen sind um zu sehen, was vor sich geht. Momtaz tanzt die meiste Zeit fröhlich vor sich hin und es begeistert mich immer wieder, wie Kinder ihre Fröhlichkeit trotz allem behalten können. Als die Musik laut aufgedreht wird und nun auch die Erwachsenen mittanzen versuche ich mich so klein wie möglich zu machen, um der Peinlichkeit zu entgehen mich auch rhythmisch bewegen zu müssen, da dies wirklich nicht zu meinen Lieblingsaktivitäten gehört, stattdessen spiele ich mit den Kindern und freunde mich ein wenig mit einem Jungen namens Mohammed an. Als wir nach einiger Zeit wieder gehen, folgt er mir noch bis zum Ausgang und versucht mir zu verdeutlichen, dass wenn er dann Geburtstag hat, wir auch zu ihm kommen sollen um mit ihm zu feiern. 

 


- Kleine Momente -

 

Natürlich gibt es noch so viel mehr zu berichten, so viele kleine Begegnungen. 

 

Zum Beispiel von der neueröffneten Schneiderei im Camp, mit einer Nähmaschine, an der ein Mann fleißig Kleidung repariert.

Oder von den vielen Kindern, die auf die kreative Idee gekommen sind sich zum Teil aus Plastiktüten Drachen zu bauen um diese überall im Camp fliegen zu lassen. 

Von dem Afghanen, der den Kongolesen freudig mit einem Faustschlag begrüßt.

Von der kleinen Schule, die vielleicht 5 m² groß und von Olivenzweigen bedeckt ist, in der eine Teenagerin Kindern Englisch beibringt.

Von den Männern, die auf Pappe auf dem Boden sitzend Karten spielen um sich damit die Zeit zu vertreiben.

Oder von dem griechischen Soldaten, der ein kleines weinendes Mädchen auf dem Arm trägt, weil es von anderen Kindern geärgert wurde. 


 

Als ich diesen Blog angefangen habe, hätte ich nicht gedacht, dass ich versuchen werde hauptsächlich von positiven Dingen zu berichten, sondern wollte vielmehr recht reißerisch von den wirklich katastrophalen Zuständen berichten um die Augen von uns Europäern zu öffnen, was für ein Unrecht hier am Rand unseres Kontinentes geschieht. Doch irgendwie hat Gott diese Bitterkeit, die sich darüber manchmal bei mir einschleicht verwandelt und meinen Blick verändert, tiefer zu schauen und durch das Leid hindurch sein Wirken und seine Gegenwart zu sehen.