Normalität.

Hier sitze ich nun in einem Coffee Shop im Zentrum von München und schlage ein bisschen Zeit tot bis mein Zug nach Erfurt fährt, zurück in mein altes Leben, zurück in deutschen Alltag, zurück zur Normalität.

Schon früher habe ich oft darüber nachgedacht, was normal eigentlich heißt und bin immer wieder zu dem Schluss gekommen dass das ziemlich subjektiv ist und natürlich darauf ankommt, wie man geprägt und aufgewachsen ist. Und nun wieder umgeben von der Normalität die ich eigentlich gewöhnt bin, merke ich wie sehr es sich verschoben hat, was ich auf Lesbos als normal verstehe. 

 

Dass wir über, auf der Straße rumliegende menschliche Exkremente steigen müssen um ins Camp zu kommen, weil das Abflusssystem mal wieder überfordert ist, ekelt mich zwar immer noch an, aber entsetzt mich nicht mehr so sehr, es ist einfach normal

Dass uns auf dem Weg zu unserer Morgenbesprechung Kinder entgegengerannt kommen, die nur Sandalen tragen, während ich meine dickste Winterjacke und darunter noch weitere 3 Lagen trage, trifft mich nicht mehr so sehr, denn das ist normal hier.

Dass vor dem Informationspunkt unserer Organisation mehr als 150 Leute bestimmt schon seit 1-2 Stunden in der Schlange stehen und dabei drängeln und schubsen um eine wahrscheinlich dennoch nicht ausreichende Wochenration an Windeln von uns zu bekommen, überrascht mich nicht, sondern das ist doch normal.

Dass wir im Laufe des Tages wahrscheinlich an die 20-30 Vier-Mann Campingzelte an die Neuankömmlinge ausgeben werden, worunter wahrscheinlich auch Hochschwangere Frauen und Säuglinge sind, obwohl die Temperaturen alles andere als sommerlich sind, aber einfach keine besseren Schlafmöglichkeiten frei sind, bricht mir nicht mehr jedes Mal aufs neue das Herz, sondern es ist normal geworden. 

Und doch ist es dabei auch normal, dass ich am Ende der Schicht wieder zurück gehen kann in meine beheizte Wohnung, mit meinem kuschligen Bett, den drei Decken darauf und dem endlosen Zugang zu Strom und warmen Wasser. Denn diese verrückte Normalität im Camp ist nicht wirklich die meine, sondern nur was ich als normal empfinde. Ich kann einfach wieder zurückkehren in meine normalere Normalität.

 

Und dann bin ich hier in Deutschland und ärgere mich als 2 Leute vor mir in der Schlange beim Bäcker stehen, die sich nicht schnell genug entscheiden können, wenn der Zug Verspätung hat oder mein Flugticket ziemlich teuer war, weil ich es zu spontan gebucht habe.

 

Bevor ich mich auf meine dreiwöchige Pause in der Heimat begeben habe, redete ich noch kurz mit einer anderen Langzeitlerin, die gerade von mehreren Wochen in den Niederlanden zurückgekommen war und schon seit fast 3 Jahren auf Lesbos ist. Sie meinte, wie wichtig ihr es ist wieder einen normalen Alltag zu erleben und daran zumindest kurz teilzuhaben. Und ich darf erkennen wie notwendig das wirklich ist, die Sorgen und Nöte in Deutschland nicht einfach nur als Luxusprobleme abzutun, und darüber nachzudenken, was für "richtige Probleme" die Leute im Camp haben, sondern ich muss daran erinnert werden, wie die eigentliche Normalität sein sollte. 

Deswegen sollte ich hören, von den Arztterminen meiner schwangeren Schwestern, von den Dingen die meine Nichten und Neffen in der Schule gelernt haben, von den nervigen Klausuren an der Uni, von Urlaubseindrücken, wie viel teurer die Milch geworden ist oder welcher Sportler gerade eine Medaille gewonnen hat. 

 

Langsam fange ich an, mich auf ein Stück normale Normalität zu freuen und darauf dass mein Referenzrahmen dafür wieder zurecht gerückt wird, denn das sollten nicht die abnormalen Zustände im Camp sein. Und ich freue mich auch schon wieder in meine zweite Realität auf Lesbos zurückzukehren, mit neuer bzw. alter Perspektive, sodass mich die Dinge wieder neu treffen können und ich all das nicht als normal einstufe.

Und ich hoffe und bete, dass die Menschen in Moria, die mir so sehr am Herzen liegen auch bald eine andere Normalität erleben können! Inshallah!